„Wenn ich schlanker, schöner, reicher, klüger wäre, dann wäre ich auch glücklicher.“ Ein Traum, der viele Menschen krank, frustriert und unglücklich macht. Das haben die Lebensberaterinnen Enid Howarth und Jan Tras aus Albuquerque, USA, herausgefunden.
Der unausrottbare Mythos vom perfekten Leben stimmt nicht, sagen die beiden. Er bindet Energie, anstatt Kraft zu geben. Sie ermuntern zur fröhlichen, gelassenen Unvollkommenheit. Das Leben hat Fehler, Macken, Ecken und Kanten. Nur wer sie akzeptiert, lebt voll und ganz.
Natürlich gibt es Tätigkeiten, bei denen Fehler gefährlich sind: beim Autofahren, beim Überqueren einer Straße, beim Umgang mit Arzneimitteln. Aber aus solchen Situationen besteht nicht das ganze Leben. Dazwischen ist viel Raum für kleine und große Schnitzer.
Eine Untersuchung der Universität von New Mexico hat ergeben: Übertriebene Genauigkeit macht nicht nur krank, sondern richtet auch wirtschaftlichen Schaden an. Glücklicher, einfacher und geldsparender lebt, wer den Mittelweg zwischen Schlamperei und Perfektionismus findet.
Perfektionismus contra Pragmatismus
Eine alltägliche Situation: Sie sehen, dass sich in einer Zimmerecke die Staubflocken ballen.
Reaktion 1: Sie seufzen: „Es wird Zeit für einen umfassenden Hausputz, ein radikales Großreinemachen!“ Und lassen den Dreck liegen, denn hier zu putzen „wäre ja nur ein Tropfen auf den heißen Stein“.
Reaktion 2: Sie nehmen den Staubball einfach mit der Hand auf und werfen ihn weg.
Reaktion 1 ist der Perfektionismus. In der Tat wäre das die vernünftigste Lösung, denn wenn sich hier der Dreck sammelt, dann sicher auch anderswo. Aber meist kommt es nicht so bald zur geplanten perfekten Aktion, und der deutlich sichtbare Staubknödel bleibt erst einmal liegen.
Reaktion 2 ist die richtige, einfache und pragmatische Lösung. Sie hat 2 bestechende Vorteile: Zum einen ist das unmittelbare Problem beseitigt, zum anderen ist der Weg zur perfekten Großreinemachaktion dadurch nicht versperrt.
Moderne Mythen 1: Der Versager
Howarth und Tras haben die „Mythen“ zusammengestellt, die viele Menschen als anerzogene Glaubenssätze mit sich herumtragen, und rufen dazu auf, diese Mythen als unrealistisch und wirklichkeitsfeindlich zu entlarven. Einer der häufigsten:
„Wenn ich nicht alles vollkommen richtig mache, bin ich ein Versager.“
Das Gegenmittel: Freunden Sie sich mit Ihren Fehlern an. Betrachten Sie andere Menschen: Oft sind deren Fehler das Interessanteste an ihnen. Sagen Sie zu sich selbst: „Meine Fehler machen mich einzigartig und kostbar.“
Stellen Sie sich vor den Spiegel, strahlen Sie sich an, und sagen Sie laut: „Ich bin teilerfolgreich.“ Sie können wundervolle Berichte schreiben, aber nie rechtzeitig. Sie sind eine hervorragende Organisatorin, aber Sie nehmen sich immer zu viel vor.
Seien Sie dankbar für die Freundlichkeit anderer, die im großen und ganzen mit Ihren Fehlern wunderbar leben können. Akzeptieren Sie Ihr unvollkommenes Ich. Nach all den Jahren haben Sie es sich verdient.
Darüber hinaus haben Howarth und Tras die folgenden Übungen entwickelt:
Die 14er-Liste
Wenn Sie sich wie ein Versager oder eine Versagerin vorkommen, machen Sie eine Liste mit 14 Dingen, die Sie an diesem Tag geschafft haben: Sie haben wundervollen Tee gekocht, sind ohne Stolpern die Treppe heruntergelaufen, unfallfrei Auto gefahren, beherrschen die Textverarbeitung auf Ihrem PC …
Diapositiv
„Fotografieren“ Sie an jedem Tag in Ihrem Gehirn einen schönen Moment, eine gelungene Arbeit, ein Lob – und sehen Sie sich am Abend dieses Gehirn-Foto an, vielleicht während Sie sich in der Badewanne entspannen oder vor dem Einschlafen im Bett.
Schadensbericht
Amüsieren Sie sich über Ihre Fehler, und erzählen Sie anderen davon. Machen Sie eine nette Geschichte daraus. Die Menschen hören es furchtbar gern, dass auch einmal andere Mist bauen. Die Pannen von heute sind oft die Anekdoten von morgen! Probieren Sie es aus: Sie werden dadurch nicht im Ansehen sinken, sondern an Liebenswürdigkeit gewinnen.
Der unperfekte Gelassenheits-Tag
Gestatten Sie sich Momente der Unvollkommenheit, oder legen Sie sogar einmal einen komplett vorsätzlich unvollkommenen Tag ein. Ein paar Ideen, die Sie natürlich mit eigenen Vorschlägen ergänzen können:
- Ziehen Sie etwas an, das nicht zusammenpasst.
- Gehen Sie mit einer ungebügelten Hose ins Büro.
- Steigen Sie in den falschen Bus.
- Bitten Sie um Hilfe.
- Antworten Sie auf eine Frage mit „Das weiß ich nicht“.
- Rufen Sie eine falsche Telefonnummer an und sagen Sie „Entschuldigung!“.
- Erzählen Sie einen schlechten Witz schlecht.
Moderne Mythen 2: Die Machbarkeit
„Perfektion ist erreichbar.“ Dieser Mythos ist eine Art Glaubensbekenntnis der modernen Industriegesellschaft, millionenfach durch Werbeversprechen in unser Unterbewusstsein gehämmert: In 7 Jahren zur 1. Million, in 5 Jahren zum Topmanager und in 9 Wochen zum Waschbrettbauch.
Die Wirklichkeit: Perfektion ist selten, flüchtig und wird meist nur zufällig erreicht. Selbst angeblich perfekte Systeme wie z. B. Weltraumfahrzeuge setzen nie auf Vollkommenheit. Sie funktionieren nur deshalb (fast) immer perfekt, weil alle Systeme mehrfach vorhanden sind. Die Erbauer rechnen also mit der Unvollkommenheit jeder Einzelfunktion.
Autohersteller berichten, dass Neuwagenkäufer wegen winziger Kratzer ganze Teile oder das ganze Auto umgetauscht haben wollen. Viele Menschen legen diesen völlig überzogenen Perfektionismus auch bei sich selbst an den Tag. Sie tragen – so Howarth und Tras – einen unbarmherzigen inneren Richter mit sich herum. Am lautesten ist die innere Stimme beim Aufstehen, beim Einschlafen oder direkt nach einem Fehler: „Du hättest es besser machen müssen“ – „Du kannst es besser“ – „Schäm dich!“
Das Gegenmittel: Streben Sie nicht danach, perfekt zu sein, sondern kompetent und einmalig. Entlassen Sie sich selbst in eine entspannte Normalität. Mit der Unperfektheit der meisten anderen Menschen können Sie ja gut leben. Seien Sie gegenüber sich selbst ebenso großzügig. Übungen dazu:
Leiser, bitte
Drehen Sie die Lautstärke Ihres inneren Richters herunter. Sagen Sie Ihrer inneren Stimme: „Ich höre dich. Du brauchst mich nicht anzuschreien.“
Herauslocken
Versuchen Sie, sich Ihren inneren Richter leibhaftig vorzustellen. Zeichnen Sie ihn, formen Sie ihn aus Lehm, oder fertigen Sie eine Collage aus Illustriertenbildern an. Sehen Sie sich an, wie unbarmherzig und hässlich er ist. Geben Sie ihm dann den Platz, den er verdient: Legen Sie das Bild in eine Schachtel mit alten Sachen, oder weisen Sie ihm in Ihrer Vorstellung einen Platz in der Hundehütte zu. Töten oder zum Schweigen bringen können Sie Ihren inneren Richter nicht. Aber Sie können ihm zeigen, dass er nicht der Chef in Ihrem Leben ist.
Selbstbekenntnis
Formulieren Sie einen lustigen Satz, mit dem Sie sich selbst beschreiben. Hier ein paar Vorschläge:
- Ich bin tüchtig, liebenswert, patent und durch und durch unperfekt.
- Die Entwicklungsstufen meines Lebens: Perfekt, Plusquamperfekt, Unperfekt.
- Ich bin unvollkommen und muss mir dazu nicht die geringste Mühe geben.
- Meine Fehler sind besser als deine.
- Ich bin unvollkommen, also bin ich.
Moderne Mythen 3: Der Erfolg
„Du bist, was du erreichst“, das ist das Glaubensbekenntnis der Erfolgstrainer. Die Wahrheit ist, dass wir mehr sind als unsere Tätigkeiten. Arbeitssucht gibt es in vielen verdeckten Formen. Gönnen Sie sich selbst einen Augenblick Ihrer wertvollen Zeit. Sie haben ihn sich verdient. Und prüfen Sie, ob Sie nicht doch etwas vom Workoholic haben.
Testen Sie sich
Notieren Sie alle Aussagen, die auf Sie zutreffen:
- Ich bin ständig beschäftigt.
- Ich schaffe manchmal mehr, als eigentlich menschenmöglich ist.
- Langeweile kenne ich nicht.
- Erschöpfung hebt meine Stimmung.
- Mein Zeitplan ist so eng, dass nie etwas schiefgehen darf.
- Ich habe öfter Schmerzen in Nacken, Schulter oder Rücken.
- Ich staune oft selbst, wie schnell mir bestimmte Arbeiten von der Hand gehen.
- Ich liebe das Gefühl, finanziell nicht nur gut, sondern außerordentlich gut abgesichert zu sein.
Wenn Sie mehr als eine Antwort angekreuzt haben, sind Sie auf den „amerikanischen Traum“ abonniert: höher hinaus wollen, verbissener kämpfen, mehr Geld machen. Howarth und Tras (immerhin selbst Amerikanerinnen) nennen dieses Lebensmodell einen Alptraum, der 30 Jahre lang anhalten kann.
Gegenmittel: Beziehen Sie Ihren Körper und Ihr Glücksgefühl in Ihre Lebensgestaltung mit ein. Verletzen Sie Ihre eigenen Regeln. Tun Sie etwas Ekstatisches. Nehmen Sie sich bewusst Zeit für Dinge, die kein Geld und keinen Erfolg bringen, sondern Ihnen einfach Spaß machen. Hören Sie auf Ihre Familie, Ihre Freunde und Ihren Körper, und erfüllen Sie deren Wünsche.
Übungen?
Bei diesem Kapitel haben Howarth und Tras die „Hausaufgaben“ bewusst weggelassen. Nehmen Sie sich Zeit, um zu spielen und auszuruhen.
Zum Weiterlesen: Enid Howard und Jan Tras, „Unvollkommen lebt sich’s besser“, nur noch gebraucht erhältlich.
Autor: Werner Tiki Küstenmacher
Mit freundlicher Genehmigung des Orgenda Verlag. Quelle: simplify-Newsletter und simplify-Homepage.